Die vier Phasen des kreativen Prozesses verstehen

Die Wissenschaft kann uns eine Menge darüber lehren, was zum kreativen Prozess gehört — und wie jeder von uns seinen eigenen Prozess optimieren kann

Illustration by Alana Peters/WeWork

Wie kommen große Künstler und Erfinder auf ihre brillantesten Ideen? Und welcher alchemistische Prozess erweckt diese Ideen schließlich zum Leben? 

Diesen Fragen bin ich in den vergangenen zehn Jahren meiner Karriere als Autorin für psychologische Themen umfassend nachgegangen. Meine Faszination für das Leben und den Geist brillanter Künstler und Erfinder hat mich auf die Suche geführt, herauszufinden, was uns kreativ macht, woher Ideen kommen und wie sie zum Leben erwachen. Aber selbst nachdem ich ein ganzes Buch über die Wissenschaft der Kreativität geschrieben und einen kreativen Persönlichkeitstest entworfen hatte, hatte ich mehr Fragen als Antworten. 

Jahrzehnte der Forschung konnten den einzigartigen Funken des kreativen Genies nicht aufdecken. Kreativität ist für uns heute genauso rätselhaft wie für die Menschen der Antike, die das kreative Genie in den Bereich des Übernatürlichen verwiesen und es zum Werk der Musen erklärten.  

Die Wissenschaft zeigt, dass kreative Menschen komplex und widersprüchlich sind. Ihre kreativen Prozesse neigen dazu, chaotisch und nichtlinear zu sein — was die Prozesse in ihrem Gehirn widerzuspiegeln scheint. Im Gegensatz zum „Mythos der rechten Gehirnhälfte“ ist an der Kreativität nicht nur eine einzelne Gehirnregion oder gar eine einzelne Gehirnhälfte beteiligt. Vielmehr nutzt der kreative Prozess das ganze Gehirn. Dabei handelt es sich um ein dynamisches Zusammenspiel vieler verschiedener Gehirnregionen, Denkstile, Emotionen und unbewusster und bewusster Verarbeitungssysteme, die auf ungewöhnliche und unerwartete Weise ineinandergreifen. 

Aber auch wenn wir vielleicht nie die Formel für Kreativität entschlüsseln werden, so kann uns die Wissenschaft doch eine Menge darüber lehren, was zum kreativen Prozess gehört — und wie jeder einzelne von uns seinen eigenen optimieren kann. 

Verständnis für den eigenen kreativen Prozess

Eines meiner aufschlussreichsten Erkenntnisse ist ein populäres Vier-Phasen-Modell des kreativen Prozesses, das in den 1920er Jahren entwickelt wurde. In seinem Buch The Art of Thought (Die Kunst des Denkens) hat der britische Psychologe Graham Wallas eine Theorie des kreativen Prozesses aufgestellt, die auf langjährigen Beobachtungen und Studien von Erfindern und anderen kreativen Köpfen bei der Arbeit beruht. 

Die vier Phasen des kreativen Prozesses 

Phase 1: Vorbereitung

Der kreative Prozess beginnt mit der Vorbereitung: dem Sammeln von Informationen und Materialien, der Identifizierung von Inspirationsquellen und dem Erwerb von Wissen über das anstehende Projekt oder Problem. Dies ist oft ein innerer Prozess (intensives Nachdenken, um Ideen zu entwickeln und sich damit auseinanderzusetzen) sowie ein äußerer Prozess (in die Welt hinausgehen, um die notwendigen Daten, Ressourcen, Materialien und Fachkenntnisse zu sammeln). 

Phase 2: Inkubation

Als nächstes reifen die in Phase 1 gesammelten Ideen und Informationen im Kopf heran. Während die Ideen langsam Form annehmen, wird die Arbeit vertieft und es entstehen neue Verbindungen. Während dieser Entwicklungsphase nimmt der Künstler seinen Fokus von dem Problem und lässt den Geist zur Ruhe kommen. Während der bewusste Verstand wandert, beschäftigt sich das Unterbewusstsein mit dem, was Einstein "kombinatorisches Spiel" nannte: Es nimmt verschiedene Ideen und Einflüsse auf und findet neue Wege, um sie zusammenzubringen. 

Phase 3: Illumination

Als nächstes kommt der schwer fassbare Aha-Moment. Nach der Inkubationsphase dringen Erkenntnisse aus den tieferen Schichten des Geistes ins Bewusstsein vor, oft auf dramatische Art und Weise. Es ist das plötzliche „Heureka!“, welches einem unter der Dusche, während eines Spaziergangs oder bei einer völlig anderen Beschäftigung überkommt. Scheinbar aus dem Nichts heraus präsentiert sich die Lösung. 

Phase 4: Verifizierung

Nach dem Aha-Moment werden die entsprechenden Worte niedergeschrieben, die Vision wird in Farbe oder Ton gegossen, der Umsetzungsplan wird entwickelt. Welche Ideen und Erkenntnisse auch immer in Phase 3 entstanden sind, werden konkretisiert und weiterentwickelt. Der Künstler nutzt die Fähigkeiten des kritischen Denkens und des ästhetischen Urteilsvermögens, um das Werk zu verfeinern und anderen seinen Wert zu vermitteln. 

Natürlich verlaufen diese Phasen nicht immer in einer geordneten, linearen Weise. Der kreative Prozess ähnelt eher einer Zickzacklinie oder einer Spirale als einer Geraden. Das Modell hat sicherlich seine Grenzen, aber es gibt uns eine Art Straßenkarte für unsere eigene kreative Reise an die Hand und gibt uns, wenn auch nicht das Ziel, so doch eine Richtung vor. Es kann uns helfen, uns unseren Standort im eigenen Prozess bewusster zu machen, wo wir hinwollen und welche mentalen Prozesse uns helfen können, dorthin zu gelangen. Und wenn der Prozess ein wenig zu chaotisch wird, kann uns die Rückkehr zu diesem Gerüst helfen, uns neu zu zentrieren, neu auszurichten und den Weg neu zu planen. 

Wenn du zum Beispiel nicht von der Inkubation zur Illumination kommst, könnte die Lösung darin bestehen, zu Phase 1 zurückzugehen und mehr Ressourcen und Wissen zu sammeln, um das fehlende Element zu finden. Oder vielleicht hast du auf der Suche nach Produktivität den allzu häufigen Fehler gemacht, direkt zu Phase 4 überzugehen und eine unausgereifte Idee voranzutreiben, bevor sie vollständig durchdacht ist. In diesem Fall musst du dir vielleicht mehr Zeit und Raum für Phase 2 nehmen. 

So optimierst du deinen kreativen Prozess für ultimativen Erfolg

Aber lass uns ein wenig in die Tiefe gehen: Als ich das Vier-Phasen-Modell in meiner eigenen Arbeit betrachtet und angewandt habe, habe ich darin einen viel tieferen Einblick in die Geheimnisse der Schöpfung gefunden.  

Im Kern geht es bei jedem kreativen Prozess darum, etwas Neues in uns selbst zu entdecken und dieses Etwas dann in die Welt zu bringen, damit andere es kennenlernen und genießen können. Die Arbeit eines Künstlers, eines Visionärs, eines Erfinders besteht darin, eine Brücke zwischen ihren inneren und äußeren Welten zu schlagen — etwas zu entwickeln, das nur in ihrem eigenen Verstand, ihrem Herzen und ihrer Seele existiert, und es in eine konkrete, greifbare Form zu gießen (nicht unähnlich dieser anderen Art des kreativen Prozesses). 

Jeder kreative Prozess ist wie ein Tanz zwischen dem Inneren und dem Äußeren, dem Unbewussten und dem Bewussten, dem Träumen und dem Tun, dem Wahnsinn und der Methode, dem einsamen Nachdenken und der aktiven Zusammenarbeit. Psychologen beschreiben dies mit den einfachen Begriffen der Inspiration (Ideenfindung) und der Generierung (Umsetzung von Ideen). 

Im Vier-Phasen-Modell können wir sehen, wie die internen und externen Elemente des kreativen Prozesses zusammenwirken. In den Phasen 2 und 3 dreht sich alles um Inspiration: träumen, reflektieren, fantasieren, sich der Inspiration öffnen und das Unterbewusstsein seine Arbeit tun lassen. In den Phasen 1 und 4 geht es hingegen um die Generierung: um die externe Recherchearbeit, Planung, Ausführung und Zusammenarbeit. Durch einen dynamischen Tanz von Inspiration und Generierung werden brillante Arbeiten zum Leben erweckt. 

Wie hilft uns das in unserem eigenen kreativen Prozess? Je mehr wir diese Balance meistern, desto stärker können wir unser kreatives Potenzial ausschöpfen.Wir alle haben eine Vorliebe für eine Seite gegenüber der anderen, und indem wir uns unserer natürlichen Vorlieben bewusst werden, können wir lernen, wie wir unsere Stärken optimieren und unsere Schwächen minimieren.  

Eher introvertierte, Ideen entwickelnde Typen glänzen in den Phasen 2 und 3: sich inspirieren lassen und auf brillante Ideen kommen. Aber sie laufen Gefahr, in ihrem eigenen Kopf gefangen zu sein und ihre brillanten Ideen nicht zu verwirklichen. Diese Denker und Träumer müssen oft mehr Zeit und Fokus auf die Phasen 1 und 4 verwenden, um ihren kreativen Prozess auf Kurs zu halten. Schaffe ein Gleichgewicht zwischen Inspiration und Generierung, indem du die notwendigen Strukturen schaffst, die dir beim Handeln und dabei, einen Fuß vor den anderen zu setzen, helfen — oder arbeite einfach mit einem Macher zusammen, dem du deine Ideen anvertrauen kannst! 

Macher-Typen hingegen glänzen in den Phasen 1 und 4. Sie sind brillant darin, Dinge zu erledigen, aber sie riskieren, dass ihr ganzer Fokus auf die Produktivität gelegt wird. Das geschieht auf Kosten der inneren Arbeit und des Denkens in großen Zusammenhängen, beides große Hilfen für eine wirklich inspirierte Arbeit. Wenn wir die kritische Arbeit der Inkubationsphase umgehen, entgehen uns unsere originellsten und bahnbrechendsten Ideen. Wenn du ein Macher bist, kannst du deinem kreativen Prozess eine neue Qualität geben, indem du in deinem Geist und deinem Zeitplan Raum für Träume, Vorstellungen, Reflexionen und Überlegungen schaffst. 

Indem wir ein Gleichgewicht dieser gegensätzlichen Kräfte suchen, können wir etwas Ordnung in das Chaos des kreativen Prozesses bringen. Und wenn wir zu Träumern werden, die handeln, und zu Machern, die träumen, ermöglichen wir es uns, mehr von unseren kreativen Talenten mit der Welt zu teilen. 

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Carolyn Gregoire ist Autorin und Creative Consultant und lebt in Brooklyn. Sie ist die Co-Autorin von Wired to Create: Unravelling the Mysteries of the Creative Mind und die Schöpferin des Persönlichkeitstests Creative Types. Ihre Arbeit wurde in der New York Times, Scientific American, TIME, Harvard Business Review und anderen Publikationen veröffentlicht.

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Kategorie
Kreativität und Kultur
Tags
KREATIVITäT